In den Steuerabteilungen größerer Unternehmen, bei vielen Steuerberatern und bei Steuerberatungsgesellschaften könnte dieses Jahr als Ausgangspunkt einer Revolution in Erinnerung bleiben. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht auf Tagungen und in einschlägigen Fachzeitschriften neue Entwicklungen auf dem Gebiet automatisierter Beratungsleistungen vorgestellt werden. Niemand zweifelt daran, dass neue Technologien die Arbeit der Steuerabteilungen und das Berufsbild der Steuerberater verändern werden. Aber sind die neuen Technologien wirklich revolutionär?
Menschliche Intelligenz zeichnet sich dadurch aus, dass länger ungenutztes Wissen verblasst. Das kann ein Vorteil sein. Nicht nur, weil dadurch Fehlentwicklungen korrigiert werden, sondern auch weil neue Entwicklungen reizvoller und motivierender sind als altbekannte. Beim Thema Künstliche Intelligenz im Steuerbereich mag trotzdem mancher ein Déjà-vu erleben. Hat es Prototypen Künstlicher Intelligenz im Steuerbereich nicht längst gegeben?
Ein Blick in alte Jahrgänge der Zeitschrift Datenverarbeitung – Steuern – Wirtschaft – Recht (DSWR), dem 2006 eingestellten Organ der DATEV eG, verschafft Gewissheit. Dort ist schon 1984 vor dem Leserkreis der Steuerberater die Frage gestellt worden, wieviel Intelligenz Computersystemen zugestanden werden sollte. Ein Beitrag in der gleichen Zeitschrift aus dem Jahr 1989 beeindruckt mit einem überbordenden Fußnotenapparat – und weckt den Eindruck, dass Deutschland in der Forschung („Ziel der KI: Simulation menschlichen Problemlösens“) vorne war. Der Theorie der 1970er Jahre folgte in den 1980er Jahren ein „Hype“ der Expertensysteme. Dabei sind nicht wenige Prototypen entwickelt und in der Praxis erprobt worden. Systeme wie BILEX, GUVEX, FINEX und INCOSS würden heute unter dem Schlagwort der Data Science vermarktet. Experimentiert wurde marktnah auch mit Systemen zur automatisierten Erstellung von Bilanz- und Prüfungsberichten. Computergestützte juristische Expertensysteme (S. Grundmann, DSWR 1987, 213) sind ebenso früh intensiv diskutiert und breit erforscht worden. Dieser historisch eindrucksvolle Diskurs und die praktische Erprobung endeten Anfang der 1990er Jahre – etwa zeitgleich mit dem einsetzenden Siegeszug der Internetanwendungen. Verschwörungstheoretiker meinen, die Berufsstände hätte einen Entwicklungsstopp verordnet. Wahrscheinlicher ist, dass sich die Prioritäten sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in der Informatik mit den Herausforderungen des Internetzeitalters verschoben hatten.
Die Prototypen die dieser Tage in Berlin auf einer Veranstaltung zur Künstlichen Intelligenz im Steuerbereich von der Steuerberatungsgesellschaft WTS zusammen mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) vorgestellt worden sind (siehe hierzu etwa den Bericht des DStV sowie hier im Blog), knüpfen an die Erwartungen und Ziele der 1980er Jahre an. Sie setzen aber auf eine andere Form der Künstlichen Intelligenz als die Expertensysteme dieser Zeit. Diese technische Evolution könnte nicht nur Geschäftsmodelle verändern, sondern auch Rückwirkungen auf die Entwicklung des Rechts haben.
Künstliche Intelligenz lässt sich zur Repräsentation von Wissen und zur Simulation menschlichen Problemlösens grob unterschieden auf zwei Wegen implementieren, regel- oder fallorientiert. Dabei können fallorientierte Systeme einen Mustervergleich vornehmen oder induktiv aus Fällen lernend Entscheidungsbäume entwickeln. Die frühen Expertensysteme waren überwiegend regelbasiert. Die dafür notwendige Technik stand quasi mit der Entdeckung der Computertechnik zur Verfügung. Der Prozess der Wissensimplementierung durch programmierte Wenn-Dann-Sätze war indessen kaum für große und dynamische Regelsysteme geeignet. Die Regeln müssen von menschlichen Experten in Programmcode übersetzt und der Programmcode laufend an Änderungen der Rechtswirklichkeit angepasst werden. Dieser Aufwand ist enorm. Deshalb konnte sich die Technik nur in Nischen und in Massenmärkten durchsetzen. Die Frage-Antwort-Systeme, die sich in handelsüblichen Steuererklärungsassistenzsystemen wiederfinden, funktionieren grundsätzlich mit dieser Technik. Heute werden sie zwar zusätzlich mit praktischen Belegerkennungsmodulen ausgestattet. Doch vieldiskutierte neue Anbieter scheitern teilweise bereits an der schlichten Komplexität einer Zusammenveranlagung. Erst maschinenlesbares (Steuer-) Recht, könnte eine Renaissance regelbasierter Expertensysteme erlauben.
Das alternative Modell der fallorientierten Expertensysteme setzt ausreichend große Fallsammlungen voraus, die Sachverhalte und damit verbundene rechtliche Schlussfolgerungen enthalten. Daraus lassen sich mit geeigneten Methoden entweder – induktiv – eigene Regelsysteme ableiten oder unmittelbar zu einem neuen Fall ein ähnlicher Fall in der Datenbank ermitteln, um danach die im Vergleichsfall verknüpften Schlussfolgerungen auf den neuen Fall zu übertragen. Obwohl die dazu notwendigen Methoden des maschinellen Lernens und der künstlichen neuronalen Netze ihre Ursprünge bereits in den 1940er Jahren hatten, waren fallorientiert arbeitende Expertensysteme in den 1980er Jahren noch nicht anwendungsreif. Das hat sich in den letzten Jahren drastisch geändert. Deutliche Fortschritte in der Grundlagenforschung auf dem Gebiet des maschinellen Lernens unter dem Stichwort des „Deep Learning“ sind der Auslöser für eine Renaissance und Revolution der künstlichen Intelligenz – nicht nur im Steuerbereich.
Die jüngst von WTS und DFKI vorgestellten Prototypen, Detection, Argumentum, Prediction, Translate (NeuMU) und Questions & Answers setzen auf diese Techniken des maschinellen Lernens. Noch haben die Systeme der Mustererkennung zwar oftmals kuriose Schwierigkeiten, etwa auf Bildern einen Blaubeermuffin von einem Chihuahua zu unterscheiden. Und die Zinsschranke lässt sich mit geringen Fallzahlen und hoher Regelkomplexität vermutlich besser in einem regel- als in einem fallbasierten System abbilden. Aber nicht nur dort wo im Steuerrecht ein typologischer Ähnlichkeitsvergleich dominiert und mit gerichtsbekannten und nicht beweisbedürftigen Bildern in einer Vielzahl von Fällen argumentiert wird, ist der Technik einiges zuzutrauen.
Das wirft die Frage nach dem Einfluss neuer Technologien auf die Rechtswirklichkeit auf. Könnten sich Expertensysteme zukünftig mit eigenen Schlussfolgerungen füttern und so das Recht selbständig weiterentwickeln? Lernt der Tax Chatbot auch im Dialog mit sich selbst? Oder wird die das deutsche Recht prägende Methode des Syllogismus die Oberhand behalten und fallorientierte Systeme in ihre Schranken weisen? Risikobewusstsein ist angebracht. Gerade im Steuerrecht zeigt sich, wie sehr die Praxis, die Ausbildung und die Suche nach preiswerten Wegen der Rechtsanwendung das Recht prägen. Setzt sich die fallorientierte Ausbildung, die seit jeher die in der Breite betriebswirtschaftlich geprägte Steuerberatung dominiert, in der Ausbildung kognitiver Assistenzsysteme fort, wird vom Syllogismus als Methode der Rechtsfindung und von den Prinzipien des Steuerrechts als Ausgangspunkt axiomatischer Theoriebildung nicht viel übrigbleiben. Das wäre dann wirklich revolutionär.
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